Achtung: Sie nutzen nur 10 Prozent Ihres inneren Journalisten!

Ich habe einmal ein gutes Erlebnis mit Lesern gehabt: Am Hauptbahnhof in München las ein Typ, der quasi Rücken an Rücken mit mir auf einer der Bänke auf dem Bahnsteig saß, seiner Freundin aus einer Geschichte von mir vor und lachte sich an den richtigen Stellen schlapp. Wie gesagt: ein Mal. Das war lange der einzige wahrhaftige Kontakt, den ich je mit meiner eingebildeten Leserschaft hatte. Ansonsten war ich den größten Teil meiner beruflichen Laufbahn umgeben von dem Kokon Redaktion – mit Türen, Empfangsdamen, Telefonzentralen und im Zweifel Anwälten zwischen mir und denjenigen, für die ich angeblich arbeite.

 

Ich habe einmal den genialen Hamburger Koch Thorsten Gillert interviewt, der den erstaunlichen Satz gesagt hat: „Wir freuen uns wirklich über Gäste.“ Nach einer Sekunde strammen Nachdenkens ist der Satz nicht mehr so erstaunlich: In vielen gastronomischen Betrieben hat man als Gast den Eindruck, dass die Angestellten es sehr viel netter hätten, wenn nicht dauernd Gäste da wären, die stören (und in Gillerts „Artisan“ in der Kampstraße ist das tatsächlich anders). Ähnlich geht es vielen Redakteuren: Ihr Leben wäre einfacher, wenn die Leser nicht so blöd wären, die großartigen Werke, die sie vorgesetzt bekommen, falsch zu verstehen, anderer Meinung zu sein oder gar, ganz schlimm, sie – trotz der großartigen Inhalte – am Kiosk offensichtlich nicht zu finden oder sonstwie zu ignorieren. Wir haben gerne das Gefühl, wir wären sehr viel besser, als unser Publikum uns findet. Im Abschieds-Editorial der letzten Ausgabe einer eingestellten Zeitschrift schrieb ein Chefredakteur mal den grandios größenwahnsinnigen Satz: „Deutschland war noch nicht bereit für dieses Heft.“

 

Gastronomie kommt von Gast und Publizistik von Publikum. Oder, um es so zu sagen, dass es weh tut: Wenn es nicht irgendjemandem dient, dann ist es kein Beruf. Wenn ein Künstler seiner Zeit voraus ist, dann ist er ein Visionär. Wenn ein Magazin seiner Zeit voraus ist, dann ist es irrelevant. „Jour“ bedeutet Tag – und nicht irgendeinen, sondern heute. Wer Zeitschriften für morgen machen will, soll das tun. Aber morgen. Heute haben wir genug zu tun.

 

Ohne mich in engmaschige Diskussionen verstricken zu wollen: Ich halte das Internet nicht für ein Medium, sondern für einen Marktplatz, auf dem auch Medien angeboten und nachgefragt werden können. Und die größte Veränderung, die uns dieser Marktplatz bringt ist, dass wir alle gleich weit von allem – und voneinander – entfernt sind, so lange wir eine Sprache sprechen. Statt hinter Mauern, Telefonzentralen und Anwälten stehe ich als Journalist heute mitten auf dem Markt, nicht mehr getrennt von meiner vermeintlichen Leserschaft, sondern Schulter an Schulter mit ihr. Mich verunsichert das ein Stück weit, und ich kann jeden Kollegen verstehen, dem das nicht gefällt. Aber ich bin überzeugt, dass es eine Situation ist, die weder zu ändern ist noch von selbst vergehen wird. Weil sie gut und richtig ist.

 

Plötzlich spüren wir unmittelbar, dass wir für unsere Arbeit verantwortlich sind. Faktisch waren wir das vorher schon, aber wir haben es hinter den Mauern kaum gespürt. Wir waren stolz darauf, unsere Namen gedruckt zu sehen, aber wohl nur die wenigsten von uns haben tatsächlich wahrgenommen, dass wir unsere Arbeit öffentlich verrichten. Und während Schauspieler immer wieder von dem direkten Kontakt zum Publikum schwärmen, haben wir für uns in Anspruch genommen, gleichzeitig bekannt und anonym zu sein. Ein Kommentar unter einer unserer Geschichten, den wir nicht kontrollieren können, bevor ihn die Welt zu sehen bekommt, ist unser Äquivalent zu dem „Auf der Straße angequatscht werden“, das Fußballer und Fernseh-Stars über sich ergehen lassen müssen. Wir hatten gedacht, es ginge ohne. Aber wenn wir uns wirklich als Diener der Öffentlichkeit, des Publikums, verstehen, dann dürfte uns heute eigentlich kein Grund mehr einfallen, die Öffentlichkeit abzulehnen.

 

Stattdessen sind wir aufgefordert, uns auf diesem neuen Marktplatz einzurichten, was den schönen Nebeneffekt hat, dass wir all die Vorteile, die uns das bringen kann, bis zur Erschöpfung ausnutzen dürfen. Und ich bin der Meinung, wir sollten es auch tun.

 

Ich persönlich bekomme mehr, besseres und interessanteres Feedback auf Geschichten, seitdem ich auf Netzwerken zu finden bin und mich so offen wie möglich auf diesen Marktplatz stelle. Manchmal bekomme ich darüber sogar bezahlte Arbeit, und da ich von bezahlter Arbeit abhängig bin bis am Mittwoch oder Samstag meine Zahlen kommen, mag ich das sehr. Aber noch wichtiger als das finde ich einen anderen Aspekt, den Redaktionen meiner Meinung nach nutzen sollten, und wenn sie es nicht tun, dann sollten es die Redakteure selbst tun: Rund um jeden Redakteur, jeden Reporter, jeden Journalisten können und sollten kleine Biotope entstehen, in denen er kommuniziert, ausprobiert, fragt und antwortet. Ich glaube, dass spätestens Facebook mit der großartigen Leistung, uns unter unseren echten Namen offen und öffentlich zu vernetzen, unsere Persönlichkeiten zum Mittelpunkt unseres kleinen Informations-Ökosystems hat werden lassen. Wie wir es gießen und pflegen, mit welchen Feeds, Micro-, Macro- und Mega-Blogs, das bleibt uns überlassen, aber es nicht zu tun, bedeutet meiner Meinung nach, Chancen zu verpassen, besser zu werden.

 

Ich erinnere mich an einen spöttischen Aufschrei als publik wurde, dass Alexander von Schönburg als Chefredakteur von Park Avenue in dem elitären Netzwerk asmallworld.net um Themenvorschläge für sein Magazin bat. Der gängige Gedanke war wohl, dass ihm offensichtlich selbst nicht genug einfiel. Selbst solche selbst ernannten Internet-Versteher wie der Handelsblatt-Blogger Thomas Knüwer fielen damals hämisch über ihn her. Ich bin der Meinung, dass Schönburg damals recht hatte. Möglichst viele Menschen nach Ideen zu fragen ist kein Zeichen für mangelnde Kreativität. Es ist ein Zeichen dafür, dass man sich selbst nicht überschätzt. Schönburg versuchte, sich ein Öko-System aus guten Tippgebern zu schaffen („I’m looking for stringers who feel like contributing to my magazine. Little quirky stories, chit-chat, gossip, ‚what’s hot‘-kind of stuff“). Das war schon damals keine neue Idee. Dass er es (mehr oder weniger) öffentlich getan hat, hat ihm geschadet, aber das Prinzip war richtig.

 

Neu daran, dass Journalisten quasi öffentlich in ihrem Kommunikations-Biotop arbeiten ist aber nicht, dass sie so einfacher ihre Kontakte pflegen können, das ist höchstens ein technischer Fortschritt. Neu ist, dass sie selbst ansprechbar, erlebbar, anfassbar werden. Und damit ja nicht nur menschlicher, sondern auch glaubwürdiger. Ein Journalist, dessen Arbeitsweise und Persönlichkeit ich kenne, ist mir vertrauter. Und obwohl ich weiß, wie vielen Kollegen die Vorstellung zuwider ist, ausgerechnet anfassbar zu sein und sich ständig vor jedem, der es darauf anlegt, rechtfertigen zu müssen, glaube ich, dass wir nicht nur bei dieser Entwicklung mitziehen müssen. Ich glaube, wir müssen sogar die Vorreiter sein. Denn Öffentlichkeit ist unser Beruf, unser Geschäft, unsere große Liebe.

 

Gerade weil wir es öffentlichen Amts- und Würdenträgern übel nähmen, wenn sie ihre Arbeit vorder Öffentlichkeit verstecken würden – weil wir es zu unserem erklärten Ziel erkoren haben, das zu verhindern – können nicht wir diejenigen sein, die im stillen Kämmerchen arbeiten und nur mit den fertigen Ergebnissen unserer Arbeit vor die Meute treten und sie verkünden wie Moses die Zehn Gebote. Wer für die Freie Rede eintritt, muss geradezu herausfordern, dass frei über ihn geredet wird.

 

Aber bitte nicht über meine Figur.

2 Antworten auf „Achtung: Sie nutzen nur 10 Prozent Ihres inneren Journalisten!“

  1. Menschen, die warten, dass Mittwoch und Samstag ihre Zahlen kommen:
    a) Lottospieler
    b) Menschen, die Dienstag und Freitag Fernsehsendungen moderieren

    Off-topic, aber fiel mir gerade ein bzw auf.

  2. Stimmt. Scheiß Branche, das. Ich würde im Prinzip bei beidem die richtigen Zahlen nehmen, aber ich sage es mit Connor Oberst: „I’d rather be working for a paycheck, than waiting to win the lottery.“

    Würde mich also bitte endlich jemand fürs Lottospielen bezahlen?

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